Aischa Rmada
(aus: Marzi, Hannelore: Frauenmärchen aus dem Orient, Königsfurt Verlag 2006 )
Es war einmal ein kleines Mädchen, das war sehr hübsch und überaus freundlich und hieß Aischa. Seine Eltern schickten es jeden Tag zu einer Lehrerin, damit es lerne, Wolle zu spinnen. Aischa war geschickt und fleißig und arbeitete gut. Die Zeit verging, da starb die Mutter.
Die Lehrerin war falsch und durchtrieben und versuchte bald, den Einfluss auszunutzen, den sie auf die Kleine hatte. Eines Tages sprach sie zu ihr: Sag deinem Vater, er kann nicht für immer Witwer bleiben. Er braucht wieder eine erfahrene Frau, die ihm den Haushalt führt und sich um dich kümmert. Ich bin eine erfahrene Frau, und ich habe dich sehr lieb, kleine Aischa. Frag ihn, ob er mich heiraten will!“
“Ja, gern!“ sagte Aischa — aber eher aus Schüchternheit als aus Überzeugung — und erklärte ihrem Vater noch am selben Abend, dass sie glücklich wäre, wenn er ihre Lehrerin — diese Heuchlerin! — heiraten würde. “Ich werde sie heiraten“, versprach der Vater, „Aber erst, wenn du groß bist und die beiden Türflühgel mit dem Riegel zusperren kannst.“ Als die schlaue Lehrerin diese Antwort hörte, dachte sie bei sich: „Man muss ihn beim Wort nehmen!“
Sie gab Aischa den Rat, einige Kissen aufeinanderzulegen und darauf zu steigen, um so den Türriegel zu erreichen. Aischa tat es, und der Vater hielt Hochzeit.
Die neue Frau hatte eine Tochter aus einer früheren Ehe, aber Aischa war viel hübscher. Sie war das hübscheste Mädchen in der ganzen Stadt und die begehrteste unter den heiratsfähigen Töchtern. Deshalb wurde die Stiefmutter eifersüchtig und behandelte sie schlecht, sobald der Vater es nicht sah. Ihr Hass auf die Stieftochter wurde mit jedem Tag größer, denn die Brautwerberinnen, die ins Haus kamen, um Hochzeiten zu arrangieren, hatten nur Augen für die schöne Aischa und beachteten die andere Tochter überhaupt nicht. Die Stiefmutter wurde darüber so wütend, dass sie Wasser in den Aschenkasten schüttete und das schöne Gesicht Aischas mit dem schmutzigen Brei hässlich machte. Da war aus der schönen Aischa eine Aischa Rmada, eine Aschen-Aischa, geworden.
Gott aber, welcher der Vater aller Waisen ist, vergisst keines seiner Geschöpfe. Eine Dschinna bekam Mitleid mit dem Mädchen und wollte ihm beistehen.
An jenem Tag brauchte der Sultan Spinnerinnen und schickte eine alte Frau in die Stadt, die sollte welche suchen. Als die Alte zu dem Haus kam, in dem Aischa Rmada wohnte, versteckte die Stiefmutter die Stieftochter, zog ihrer eigenen Tochter die allerschönsten Kleider an und ging mit ihr in den Sultanspalast. Vorher aber hatte sie dem armen Waisenkind befohlen, das Hans zu putzen, den Fußboden zu wischen, die Zimmer aufzuräumen und das Essen zu kochen.
Kaum waren Stiefmutter und Stiefschwester ausgegangen, eilte die Dschinna aus der fernsten Ferne herbei. Sie hatte Aischa liebgewonnen und beschloss, die schwere Arbeit für sie zu tun. In einem einzigen Augenblick hatte sie alles fertig. Dann stellte sie sich neben das Mädchen, lächelte es freundlich an und strich ihm über das weiche Haar. Sie trocknete die Tränen, die ihm aus den Augen rannen, welche schön wie die Augen der Gazelle waren, und wusch die schmutzige Asche ab, die seine zarten Gesichtszüge verbarg. Sie kleidete es in herrliche Gewänder, wie sie Königen und Söhnen von Königen würdig gewesen wären, und ließ es in die allerliebsten goldenen Pantöffelchen schlupfen, die Frauen jemals an den Füßen getragen hatten. Dann zeigte sie ihm den Weg zum Palast und führte es in den Saal, in dem die Spinnerinnen saßen und spannen.
Die Stiefschwester bemerkte Aischa. Sie vermeinte, Aschen-Aischa zu erkennen, und sagte es der Mutter. „W0 denkst du hin!“ rief die Stiefmutter. „Das ist ganz und gar unmöglich! Unsere schmutzige, zerlumpte Aischa Rmada sitzt zu Hause! Außerdem bleibt ihr vor lauter Arbeit gar keine Zeit, um hierherzukommen!“ Und sie verfluchte das Mädchen: „Kiitba ua chli darha! – Mögen Feuer und Leid über ihr Haus kommen!“
Aischa aber spann flinker und feiner als irgendeine, und alle bewunderten ihre Geschicklichkeit ebenso wie ihre Schönheit. Sie War mit ihrer Arbeit früher fertig als die anderen Spinnerinnen und ging als erste fort. Sie musste ja vor der Stiefmutter zu Hause sein und wieder ihre alten Kleider anziehen und sich das Gesicht mit Asche schwärzen. In ihrer Eile verlor sie aber einen ihrer goldenen Pantoffeln; er fiel in ein Wasserbecken und verstopfte das Rohr, durch welches das Wasser in das Becken strömte. Da wurden Handwerker gerufen, die sollten das Wasser wieder zum Fließen bringen. Sic kamen und fanden den reizenden kleinen Pantoffel. Er War so hübsch, dieser kleine goldene Pantoffel, dass sie ihn dem Sohn des Sultans brachten, um ihn zu erfreuen. Kaum aber hatte der Prinz ihn erblickt, verliebte er sich auf das Heftigste in die Unbekannte, die ihn getragen hatte, und erklärte, er wolle sie um jeden Preis heiraten, sie und keine andere!
Eine alte Frau wurde beauftragt, in der Stadt herum zu gehen und jedem Mädchen den Pantoffel anzuprobieren. Schon hatte sie den größten Teil der Medina, des Altstadtviertels, durchstreift, aber noch immer hatte sie den hübschen kleinen Fuß nicht gefunden, der zierlich genug gewesen wäre, um in das Pantöffelchen zu schlüpfen. Schließlich kam sie zu dem Haus, wo Aischa Rmada wohnte, und klopfte an die Tür. Die Stiefmutter hatte die Alte kommen sehen. Sie wusste, aus welchem Grund sie unterwegs war. Schnell beschloss sie, Aischa zu verstecken, und rollte sie in eine Matte aus Weidengeflecht ein. Die legte sie dann auf dem Dach nicht weit von der Tür nieder, durch welche man hinaufgelangt.
Die Alte trat ein und ließ Aischas Stiefschwester den Pantoffel probieren. Sie sah, dass er ihr nicht passte, und fragte, ob es noch ein anderes Mädchen im Haus gebe. “Nein“, antwortete die Stiefmutter. Da verabschiedete sich die Alte und ging weiter. Als sie die Gasse gerade verlassen wollte, begegnete ihr eine unbekannte Frau, grüßte freundlich und sprach: „In dem Haus, in dem du zuletzt warst, gibt es doch noch ein anderes Mädchen. Sir haben es vor dir auf dem Dach in der Nähe der Tür versteckt. Du musst umkehren und auch ihr den goldenen Pantoffel anziehen, wenn du den königlichen Auftrag erfüllen willst!“ Die Frau war keine andre als die Dschinna, die Beschützerin der armen Aischa.
Die Stimme der Fremden klang so sicher, so überzeugend, dass die Alte sich der Aufforderung nicht entziehen konnte. Sie machte auf der Stelle kehrt und besuchte das Haus noch einmal, das sie gerade verlassen hatte. Als sie das Dach betrat, fand sie dort nicht die kleinste Spur von einem jungen Mädchen, wohl aber eine alte geflochtene Matte, die aufgerollt in einer Ecke lag.
Da ärgerte sie sich über die Fremde, die sie dazu verleitet hatte, umzukehren. Sie wollte das Dach gerade brummend verlassen, als ihr der Gedanke kam, doch einmal nachzusehen, was in der Matte steckte. Sie rollte sie auf —, und zum großem Ärger der Stiefmutter und der Stiefschwester kam Aischa zum Vorschein. Die beiden ärgerten sich aber noch mehr, als die Alte feststellte, dass der Pantoffel dem schönen Waisenkind wie angegossen passte. Da wurde Aischa Rmada sogleich zum Palast geführt und mit dem Prinzen vermählt.
(aus Marokko)